Lovecraft und die Antike (IV)

Mit einem Tag Verspätung H. P. Lovecraft zum 128. Geburtstag

Bereits in den drei früheren Artikeln dieser Reihe habe ich versucht, die Beziehung H. P. Lovecrafts zur Antike genauer zu beleuchten: So habe ich sowohl über Lovecrafts Entdeckung der griech.-römischen Welt und ein erstes Gedicht als auch über seine ersten zwei Mythos-Geschichten mit antikem Einschlag sowie über seine einzige Mythos-Erzählung, die tatsächlich in der Antike spielt, geschrieben. Lange war ich davon ausgegangen, dass die Reihe damit womöglich bereits zu ihrem natürlichen Ende gekommen sei, bis ich in einem Sammelband zur Rezeption der Antike in moderner Fantasy-Literatur auf einen Aufsatz stieß, der den Freunden des altertümlichen kosmischen Horrors nicht vorenthalten werden sollte.

In seinem Essay Classical Antiquity and the Timeless Horrors of H. P. Lovecraft (in: Classical Traditions in Modern Fantasy, ed. Rogers/Stevens, Oxford University Press 2017, S. 92-117) unternimmt Robinson Peter Krämer den Versuch Lovecrafts Leidenschaft für die Antike zu analysieren, dafür argumentierend, dass es dieses Interesse für Griechen und Römer gewesen sei, das Lovecraft zum Schreiben brachte und das sein Weltbild nachhaltig geprägt habe. In einem zweiten Abschnitt untersucht Krämer daraufhin Lovecrafts frühe Geschichten, die die Antike als Setting nutzen. Schließlich widmet er sich drittens den vielen sprachlichen Anspielungen und Verweisen auf die griech.-röm. Antike im Mythos.

1. Die Antike und ihre Rolle in Lovecrafts Kindheit und Jugend

Der erste Abschnitt Krämers erweitert den ersten Teil meiner bescheidenen Reihe nicht nur, sondern er ersetzt diesen sogar vollständig. Geringer kann man die erstaunliche Faktensammlung des in Bonn arbeitenden Forschers nicht würdigen und dieser Teil des Aufsatzes sollte Pflichtlektüre für jeden sein, der sich für Lovecrafts frühe Lebensjahre und seine Verbindung zur klassischen Antike interessiert. So erfahren wir von Krämer nicht bloß, dass Lovecraft (geb. 1890) schon mit sechs Jahren die Gedankenwelt der Hellenen und Römer für sich entdeckte, sondern auch dass er dies durch die umfassende eigene Lektüre von Übersetzungen (darunter Homer, Vergil, Horaz, Ovid und Juvenal) tat; dass er schon in diesem Alter gerne Kunstmuseen mit klassischen Ausstellungen besuchte und dass er eine eigene Sammlung an griechischen Gipsbüsten anlegte.

Zudem datiert Krämer Lovecrafts Ablehnung des Christentums und die parallele Hinwendung zum Paganismus in die gleiche Zeit. Krämer zitiert den Meister selbst, wenn es darum geht, dass dieser den antiken Göttern Altäre errichtet habe und dass er von der römischen Ästhetik der Macht fasziniert gewesen sei. Lovecraft nahm bereits mit sieben Jahren das Pseudonym Lucius Valerius Messala an – nur eines von insgesamt zwei Pseudonymen, die er während seiner Kindheit nutzte (das zweite ist natürlich Abdul Alhazred). Er begann zur gleichen Zeit selbst zu schreiben; sein frühestes erhaltenes Werk ist eine Zusammenfassung der Odyssee in nur 88 Versen. Auch von der Illias, den Argonautica, der Aeneis, Ovids Metamorphosen und anderen antiken Texten fertigte H. P. Lovecraft Zusammenfassungen für „junge Leser“ an.

Im Alter von nur acht Jahren begann Lovecraft schließlich, Latein zu lernen (und verfing sich sofort in dem Problem der korrekten Aussprache), verschlang antike Geschichte und übersetze selbstständig. Bis 1905 schrieb er zudem zwei Sammlungen von Gedichten, die „den Göttern, den Helden und den Idealen der Antike gewidmet“ waren, sowie ein Antiquitäten-Handbuch, das allerdings leider verschollen ist. Zuletzt kommt Lovecraft auch selbst nocheinmal zu Wort: In seinem berühmten Essay Supernatural Horror in Literature (dt. Die Literatur der Angst, z.B. Suhrkamp 1995) verweist der Erfinder Cthulhus auf Petronius Werwolf-Geschichten, die grausameren Passagen bei Apuleius‘ Metamorphosen sowie auf einen Brief Plinius des Jüngeren und Phlegons Buch der Wunder als direkte antike Inspirationen für seine Werke. Hiernach kann man wohl sicher behaupten: Die Antike hat in Lovecrafts Leben und Schreiben tatsächlich eine nicht unbedeutende Rolle gespielt.

2. Die Antike als Setting in Lovecrafts Geschichten

In seinem zweiten Abschnitt präsentiert Krämer nun insgesamt drei Beispiele dafür, wie Lovecraft sein Interesse und seine Vorbildung in Bezug auf die Antike in seinen eigenen Erzählungen umgesetzt hat. Dazu betrachtet er zunächst The Tree (1920) und das schon in dieser Reihe vorgestellte The Very Old Folk (1927), deren Handlung jeweils im klassischen Griechenland bzw. der römischen Provinz verortet ist, bevor er drittens The Dream-Quest Of Unknown Kadath (1927) auf antike Motive, Charaktere, Zitate und Handlungsbögen hin untersucht. Die Erzählung The Tree, die in dieser Reihe bislang überhaupt nicht besprochen wurde, weil die Geschichte nicht zum eigentlichen Mythos gehört, klingt mit ihrem Setting im Syrakus des 4. Jh. v. Chr. und mit ihrem Bericht von übernatürlicher Rache nahezu authentisch altertümlich. Krämer geht soweit, Parallelen zu einer Geschichte des Theogenes von Thasos herzustellen, die Lovecraft vielleicht sogar als direkte Vorlage gedient haben könnte. Über The Very Old Folk weiß Krämer leider nichts zu berichten, was nicht schon in dieser Reihe gesagt worden wäre, weshalb wir den Abschnitt schnell übergehen können.

Interessanter ist dann die Untersuchung von Lovecrafts Novelle The Dream-Quest Of Unknown Kadath, die zwar selbst nicht in der Antike (oder überhaupt in der menschlichen Geschichte) angesiedelt ist, in welcher Krämer aber sowohl deutliche Parallelen zu Homers Epen als auch zu Lucians satirischem Reisebericht Verae Historiae ausmacht. Zwar streift er die meisten seiner Punkte nur sehr oberflächlich, aber dafür kann er eine ganze Reihe an antiken Einflüssen aufzählen: So sei zum Beispiel das zentrale Motiv in Dream-Quest wie in der Odyssee die Heimreise, auf der der Protagonist mannigfaltige Abenteuer bestehen müsse. Weiter gebe es auffällige Ähnlichkeiten bei Dialogen und Figuren: funktional, so Krämer, sei Kuranes etwa dem antiken Seher Tireisias ähnlich. Die Traumlande selbst könnten als Parallele zur griechischen Nachwelt verstanden werden. Zudem verweist Krämer auf die Verwandtschaft von Hypnos und Thanatos in der griechischen Mythologie, auf die Existenz von Toren in die Unterwelt/Traumlande und ähnliches mehr. Aus Lucians Werk habe sich Lovecraft z.B. bei der Mondreise Randolph Carters und dessen Kampf gegen die Mondkreaturen inspirieren lassen. Auch die Shantaks des Mythos könnten, so Krämer, direkt von Lucian inspiriert sein.

3. Antike Referenzen und der Cthulhu Mythos

Hat man die ersten beiden Abschnitte von Krämers Essay hinter sich gelassen, wundert man sich angesichts des Umfangs der bisher besprochenen Themen schnell, dass der nun erst noch folgende dritte und letzte Abschnitt der mit Abstand längste ist. Kein Wunder, versucht Krämer doch alle Arten der Verwendung von antiker Sprache in den Werken des Mythos auf einmal zu beleuchten und zu klassifizieren. So untersucht er erst die antiken Einflüsse auf Begrifflichkeiten, Neologismen und Metaphern des Mythos, schreitet danach zu einer Untersuchung der Funktion antiker Zitate in Lovecrafts Werken fort und endet schließlich damit, die Wirkung der künstlich geschaffenen Altertümlichkeit des Mythos zu analysieren.

Als Beispiel für seine erste Sprachverwendungskategorie wählt Krämer zunächst die Entstehungsgeschichte des Namens Necronomicon aus. Lovecraft hat sich bei diesem Neo-Graecizismus möglicherweise von Marcus Manilius‘ Astronomicon, einem astrologischen Werk aus dem 1. Jh. n. Chr., inspirieren lassen. Darüber hinaus entdeckt Krämer vor allem in der beschreibenden Sprache Lovecrafts Anleihen bei der Antike, etwa wenn von „stygischen“ Höhlen und Abgründen, „bacchanalischen“ Feiern oder „zyklopischen“ Städten berichtet wird. Doch es bleibt nicht bei einzelnen Vokabeln, wie Krämer am Bild des Polyphem aus Vergils Aeneas zeigen kann, welches von Lovecraft wohl als Vorlage für Beschreibungen Dagons und selbst Cthulhus verwendet wurde – und worauf der Meister aus Providence sogar ganz selbstbewusst in seinem eigenen Text anspielt.

Bei der Untersuchung der Verwendung antiker Zitate nimmt sich Krämer neben dem schon erwähnten The Tree zudem noch die Geschichten The Tomb (1917) und The Festival (1923) vor, die alle von Lovecraft mit einem Epigraphen versehen wurden, der bei den ersten beiden Texten jeweils aus Vergils Aeneis stammt und bei The Festival von Lovecraft (aufgrund eines Übertragungsfehlers fälschlicherweise) Laktanz zugeschrieben wurde. Die Funktion dieser Epigraphen bestimmt Krämer als eine dreifache: So sollten die Zitate Lovecrafts Texte erstens in die Tradition der Gothic-Literatur stellen und auf diese Weise eine bestimmte Atmossphäre transportieren. Zweitens dienten die Zitate bei Lovecraft teilweise als Hinweise auf den Inhalt der Geschichte (sog. Foreshadowing), die aber nur die Leser verstehen konnten, die des Lateinischen mächtig waren. Drittens sollten die Zitate dem Leser zeigen, dass Lovecraft in Alter Geschichte und Alten Sprachen bewandert war und so seinen Ausführungen über die Geschehnisse und Geheimnisse der Vergangenheit Glaubwürdigkeit verleihen. Gleiches gelte, so Krämer weiter, auch für die Verwendung lateinischer Inschriften in den Geschichten selbst, die Erwähnung antiker Literatur durch Lovecrafts Figuren und das Einflechten „echter“ Götternamen (etwa Kybele, Magna Mater, Gorgo, Hydra, Dagon), historischer Personen, Völker oder Kulturen in seine Texte.

Ziel all dieser antiken Referenzen, die nur aufbauend auf Lovecrafts intensiver Beschäftigung mit dem griech.-röm. Altertum seit frühester Kindheit möglich waren – sei es in erster Linie, so Krämer abschließend, eine künstliche Altertümlichkeit für den Lovecraftschen Mythos selbst zu schaffen. Krämer beschreibt dies wörtlich so (Übersetzung von mir):

„Durch die Präsentation einer unvorstellbar großen Altertümlichkeit [des Mythos] entwickelt Lovecraft ein eindrucksvolles Bild von der Ewigkeit und Unausweichlichkeit der beschriebenen Gefahren. Die Großen Alten, die kosmischen Schrecken und die bösen Kulte existierten vor dem Beginn der Menschheit, sie existieren jetzt und sie werden für immer fort existieren. Deshalb sind Verderben und Auslöschung der Menscheit unausweichliches Schicksal, auch wenn sie für den Moment sicher scheint.“ (S. 115f.)

Ich würde behaupten: Dieses Bild funktioniert – genauso wie der Aufsatz Krämers, der jedem interessierten Lovecraft-Fan wärmstens ans Herz gelegt werden kann.

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